Rückführung statt Abschöpfung: Wenn Wirtschaft regenerativ wird

Ein Beitrag von Aaron Bolte
5. Juli 2023

Wir Menschen sind Meister der Wertschöpfung. Die Prozesse unserer Zivilisation sind bewundernswert effizient. Man nehme etwas Genius, etwas Arbeitskraft und einige Rohstoffe von Mutter Natur – schon erschafft die Menschheit ein faszinierendes Spektrum an Waren und Dienstleistungen. Im Laufe der Zeit haben wir unsere Methoden und Werkzeuge immer weiter optimiert, so dass wir bei gleichem oder besserem Ergebnis immer weniger Zeit und Ressourcen aufwenden müssen. Ein wachsender Überschuss wird geschaffen. Zusätzlich zu den Produkten entsteht so ein wachsender Freiraum für Komfort, Kunst, Kultur, Forschung, Gemeinschaft und vieles mehr. Das nennt man Wohlstand.

Doch wo ist dieser Überfluss aktuell erlebbar? Wo wirkt dieser immense gemeinschaftliche Freiraum aus dem Überschuss den wir tagtäglich gemeinsam schaffen? Er ist zwar vorhanden, steht aber für die Regeneration des Gesamtsystems aktuell kaum zur Verfügung.

Experten für Wert-Abschöpfung

Das ist so, weil wir Menschen auch Experten für Wert-Abschöpfung geworden sind. Überall wo großer Wert entsteht (Wertschöpfung), geht der Großteil der  entstehenden Überschüsse konzentriert an einige Investoren, Anteilseigner, Kreditgeber usw. (Wert-Abschöpfung). Was tun die Empfänger mit den gewonnenen Überschüssen nachdem sie einen gewissen Teil davon konsumiert haben? Sie investieren die überschüssigen Werte in weitere Geschäftsmodelle, die wiederum Überschüsse erzeugen, die wiederum abgeschöpft werden. Diese werden ihrerseits wieder im Sinne maximaler Wert-Abschöpfung angelegt und so weiter. Das ist ein sich selbst verstärkender und beschleunigender Prozess, an dessen Höhepunkt wir heute stehen.

Wie so vieles in der Welt sind auch die Prozesse für Wert-Abschöpfung über die Jahrzehnte immer weiter optimiert worden. Generationen von Wirtschaftsexperten haben immer effizientere und global verbundene Wert-Abschöpfungsketten entwickelt. So sind diese Mechanismen heute tief in unsere Zivilisation eingewoben. Maximale Wert-Abschöpfung wird als natürlicher Bestandteil von Wirtschaft an den Universitäten gelehrt. Übliche Rechtsformen wie GmbH, AG und viele andere sind ganz auf Wert-Abschöpfung hin optimiert. Wer erfolgreich in Wert-Abschöpfung ist, gilt als vertrauenswürdig und bewundernswert. Wert-Abschöpfung gilt landläufig sogar immer noch als Motor des globalen Fortschritts an und für sich.

Ganz oben in den Abschöpfungsketten wird seit geraumer Zeit mit automatisierten Abläufen, Algorithmen und künstlicher Intelligenz auf höchstem Optimierungsniveau investiert und abgeschöpft. Hinzu kommen umfangreiche Beeinflussungsmöglichkeiten aus den verfügbaren Budgets, die die Ressourcen von Staaten inzwischen deutlich übersteigen.

Gerechtigkeit? Selbsterhalt!

Beinahe könnte man heute über die vergangenen Zeiten schmunzeln, in denen die Schattenseiten der Abschöpfung nur als ein Problem der sozialen Gerechtigkeit gesehen wurden. Eine empfundene, gesellschaftliche Ungerechtigkeit verblasst in ihrer Relevanz vor der heute spürbar werdenden Erosion der ökologischen und wirtschaftlichen Grundlagen unserer gemeinsamen Existenz. Diese ist ganz nebenbei auch die Existenzgrundlage der Wert-Abschöpfung selbst.

Die hoch optimierte Abschöpfungslogik hat also inzwischen begonnen ihre eigene Arbeitsgrundlage immer stärker anzugreifen und sogar in den reichsten Ländern der Welt wird das immer deutlicher spürbar.

Wessen Aufgabe ist Regeneration?

Trotz aller Effizienz und Optimierungskraft machen die laufenden Systeme aber nicht halt, denn der Faktor Regeneration kommt in der Gleichung der Abschöpfung nicht vor. Die Verantwortung für die Regeneration von Mensch und Natur war nie bei den Unternehmen oder den Abschöpfenden angesiedelt. Nachhaltigkeit und Regeneration waren traditionell immer schon in der Verantwortung von Staat und dem wohltätigen Sektor. Doch diese beiden Spieler scheinen der Größe der aktuellen Aufgabe nicht gewachsen. Zu klein scheinen ihre Budgets und zu gering ihre Einflussmöglichkeiten.

Systemisch gesehen besteht also ein immenses Verantwortungsvakuum. Die Stellen, die für Regeneration verantwortlich sind haben keine ausreichenden Möglichkeiten, um genügend Wirkung zu erzielen. Und die Stellen, die alle Möglichkeiten hätten, arbeiten mit Methoden, in denen die Aufgabe der  Regeneration per Definition ausgeschlossen ist.

Die Quelle skalierbarer Regeneration

Um in absehbarer Zeit wirksame Regeneration von Öko- und Sozialsystem zu erreichen muss die Verantwortung der Regeneration genau dort angesiedelt werden, wo sonst zuerst die Abschöpfung greift: An der Quelle der Wertschöpfung, in produktiven Unternehmen selbst.

Nur wenn der erzielte Überschuss noch nicht abgeschöpft wurde, stehen ausreichende Ressourcen zur Verfügung um das benötigte Maß an Regeneration für Mensch und Natur leisten zu können.

Ein produktives Unternehmen, das einen wesentlichen Teil seiner Überschüsse per Satzung verpflichtend und in Abstimmung mit lokalen Experten in die Regeneration seiner ökologischen und sozialen Lebensumgebung zurückführt ist ein regeneratives Unternehmen.

Mit jedem weiteren Unternehmen, das verbindlich regenerativ wirtschaftet, dreht sich die alte Gleichung um:

Je wirtschaftlich erfolgreicher ein Unternehmen ist, desto auszehrender regenerativer wirkt es auf Mensch und Natur.

Nach mehreren Jahrhunderten der Optimierung von Wertschöpfungs- und Wert-Abschöpfungsketten ist nun die Zeit gekommen, wo große Innovationskraft in die Schaffung und Optimierung von Rückführungsketten investiert wird. Die regenerative Rückführung von Überschüssen in Natur und Gesellschaft wird in einigen Jahrzehnten genauso tief in unsere Zivilisation eingewoben sein wie es heute die Abschöpfungslogik ist.

Wir stehen jetzt am Anfang dieses Weges, doch die Voraussetzungen sind sehr vielversprechend. Das Verständnis dafür, wie und wo Regeneration stattfinden muss ist vorhanden. Bestehende Methoden, Strukturen und Gewohnheiten müssen nur modifiziert werden, nicht neu erfunden. Viele fortschrittliche Technologien stehen uns zur Verfügung, um regenerative Innovation in hoher Geschwindungkeit voranzutreiben.

Regeneration kann nicht von oben verordnet werden

Das regenerative System-Update für unsere Wirtschaft wird nicht einfach über eine Anordnung von oben geschehen. Sie kann nicht von zentralen Stellen erzwungen werden. Den Anfang werden hunderte und tausende kleine lokale Nahversorgungsunternehmen in Bürgerhand machen. Sie werden vormachen, wie eine Nahversorgung für elementare Bedürfnisse, finanziert mit lokalem Kapital und ohne Abschöpfungs-Priorität funktioniert. Sie werden zeigen, dass eine dezentrale und kooperative Organisation mit lokaler Verantwortung die Abkürzung zur erfolgreichen Symbiose zwischen den Menschen und ihrem Heimatplaneten ist.

Experten für Regeneration

Nachdem wir als Zivilisation zuerst die Wertschöpfung und dann die Wert-Abschöpfung gemeistert haben, werden wir als nächstes zu Experten in Rückführungslogik und kontinuierlicher Regeneration unserer Lebensumgebung werden.

Das Verantwortungsvakuum für die regenerativen Aufgaben wird dann geschlossen, wenn Menschen aus freien Stücken neue Versorgungsstrukturen aufbauen, die den Erhalt und den Wiederaufbau allen Lebens als unverhandelbaren Wirtschaftsfaktor einbeziehen.